Giovanni
Die Luft hatte merklich abgekühlt und roch angenehm feucht, als Giovanni die weiche Decke über den steinigen Boden am Steges Ende ausbreitete. Die Nacht musste die drückende Sommerhitze vertrieben haben, sodass ihnen eine seichte Brise über das Gesicht strich, während sie sich nebeneinander niederließen.
„Salute.“ Die mit Rotwein gefüllten Gläser klirrten aneinander und im Halbdunkeln erblickte Giovanni endlich das entspannte Lächeln, welches hinter dem Rand ihres Weinglases aufblitzte.
Er hatte einen starken Wein ausgesucht, sodass seine nervösen Gedanken und seine Zurückhaltung ohne großes Zutun schwanden. Seine gesamte Disziplin hatte er in diesem Moment aufbringen müssen, um nicht augenblicklich seine Hand auszustrecken und den luftigen Stoff ihres Sommerkleides weiter hinauf zu schieben. Zuerst langsam über die angewinkelten Wanden, folgend über ihre Oberschenkel, bis hinauf zum begehrten Ziel eines jeden Mannes. Daher wusste er, würden seine Fingerspitzen einmal in Berührung mit dieser weichen Haut gekommen sein, würden sie mit dem Tasten nicht wieder aufhören wollen.
Den Blick hinaufwandernd, nahm schließlich, das ihm seitlich zugewandte Gesicht seine Aufmerksamkeit ein. Es war ihm ungeheuerlich, wie bezaubernd sie in dem goldenen Licht der Laternen wirkte. Dort wo die schier golden wirkenden Haarspitzen auf das unschuldige Hellblau ihres Kleidersaumes fielen, fantasierte er unwillkürlich über liebliche Sonnenaufgänge über stillen Ozeanen. Diese Frau hatte ihm wohl schon jetzt den Kopf verdreht! Hoffend, dass etwas Alkohol sein Gemüt beruhigen würde, nahm er einen tiefen Schluck Wein und brach das stille Schweigen der Nacht.
Seit dem Tag, als sie das erste Mal leichtfüßig in seine Bar spaziert war, hatten sich aber Dutzende Fragen in seinem Hinterkopf abgespeichert. Nun, etwas übermütig durch den steigenden Alkoholpegel und der gemeinsamen Zweisamkeit, traute er sich endlich seinen Gedanken Worte folgen zu lassen.
Ihren Blick einfangend, purzelten sie nur aus seinem Mund hinaus. Für kurze Zeit standen seine Worte bewegungslos im leeren Raum, ehe Alma ebendiese mit einem eleganten Wink ihrer rechten Hand beiseite wischte.
Ein amüsiertes Lachen kam aus ihrer Kehle.
Endlich hatte er wissen wollen, was sie in das kleine Notizheft schrieb, welches sie permanent an ihrem Körper trug.
„ Das sind doch nur alberne Kritzeleien. Nichts besonderes, kaum der Rede wert.“
Verstehend nickt er leicht mit dem Kopf, aber er nahm ihr die kleine Schauspielerei nicht ab. Ganz genau hatte er beobachtet, wie sie das winzige Buch wie ihren eigenen Augapfel hütete.
Doch er wusste auch, dass sie auf weiteres Drängen, sich ihm wieder verschließen würde.
Eine weitere Frage erlaubte er sich noch, stellte sie aber mit sorgsamen Bedacht.
In sekundenschnelle war als Antwort ein Schatten über ihre Gesichtszüge gehuscht und sogleich wieder in der Dunkelheit verschwunden.
Alma
Mitten ins Herz hatte seine Frage sie getroffen. Unvorbereitet wie sie gewesen war, hatte er das Entgleisen ihrer Gesichtszüge bemerken müssen. Aufmerksamer als gedacht war er gewesen und drohte damit nun ihre ganze sorgfältig aufgebaute Fassade in ihren Einzelteilen zu zerstören. Sie fragte sich, wie es hatte soweit kommen können. Es schien ihr, als ob er als einzige Person ihr Gesicht lesen konnte. Dennoch konnte sie ihm ihr Innerstes nicht anvertrauen, dafür war es schon zu spät. Sie hatte ihre Machenschaften tief in ihrem Selbst vergraben und ein Auspacken dieser glich dem Entschärfen einer Atombombe. So groß die Sehnsucht auch war, endlich mit jemandem alles zu teilen und den Ballast hinter sich zu lassen.
Die ausbleibende Antwort überspielend lehnte sie sich gekonnt zu ihm hinüber und ließ ihre Blick für sich sprechen. An diesem Abend wollte sie nicht mit der Ernsthaftigkeit des Lebens konfrontiert werden. Es zählten nur sie Beide. Den Blick verführerisch über seine Lippen streichen lassen, lockte sie ihn wie eine Wildkatze aus der Reserve.
Kurz bevor sich ihre Gesicht berührten flüsterte sie ihm dennoch leise Worte zu.
“Lass uns diesen Abend genießen, für das was er ist. Bitte.“
Er schluckt darauf merklich, seine Gedanken schienen hinter seinen Augen gegen einander zu kämpfen.
„D’accordo?“
Stille - Sie wartete auf eine Antwort.
Doch es kam keine.
Kurz vor ihren Lippen, wandte er sich ab und richtete sich auf.
Sie hatte ihn unterschätzt, möglicherweise gab er doch nicht so leicht bei.
Paradoxerweise gefiel es ihr allerdings, dass er sich nicht so leicht in die Karten schauen ließ. Ihr war nun klar, dass er seine Fragen nicht so einfach beiseite legen würde.
Dennoch für heute Abend musste er andere Prioritäten gesetzt haben, als er grinsend sein noch immer zerrissenes Hemd über den Kopf zog.
Amüsiert beobachtete Alma, wie der Mann ihres Begehrens vorne am Steg stand und sich Stück für Stück seiner Kleidung entledigte.
Kurz hatte sie geglaubt, er würde sich ganz von ihr abwenden. Diese überraschende Wende ließ ihr Herz in rasendem Tempo schlagen. Der Anblick seines wohlgeformten Rückens, dem runden Gesäß und kräftigen Beinen gefiel ihr nun um einiges besser.
Einen kurzen Blick warf er ihr zu. Dann hörte sie auch schon das Klatschen der Wellen gegen seinen Körper und das aufgescheuchte Quaken der wegfliegenden Enten.
Plötzlich war da nichts mehr gewesen. Für einen kurzen Moment war die Welt stehen geblieben und Sorge war in ihr gereift. Suchend reckte sie ihren Hals und spürte schon in dieser kurzen Abwesenheit eine bittere Sehnsucht, die sie zu verschlingen drohte.
Unbewusst wurde ihr klar, dass sie eine Trennung, nach einer gemeinsamen Liebesnacht nur schwer überleben würde. Ein gebrochenes Herz war nicht leicht zu heilen.
Ein lautes, freudiges Jauchzen durchbrach ihre Gedanken und inmitten des Sees erblickte sie seinen aus dem Wasser ragendem Kopf.
„Vieni! Komm! Das Wasser ist herrlich!“
Trotz der weiten Entfernung war seine Aufforderung nicht schwierig zu verstehen.
Lachend verschwand er wieder unter der Oberfläche und kam wieder ein paar Meter näher zum Vorschein. Die nassen Strähnen aus dem Gesicht schüttelnd, konnte sie nicht widerstehen.
Knopf für Knopf öffnete Alma ihr Kleid und seufzte erleichtert als es langsam zu Boden glitt. Der helle Stoff bildete zu ihren Füßen einen Kreis, welchen sie einen Fuß nach dem anderen hebend verließ. Vergleichbar mit dem Ausziehen einer unsichtbaren Uniform, fielen ihr die damit verbundenen Lasten ab. Ohne jederlei Ballast, war sie bereit ins Unbekannte zu tauchen und sich wenigstens für diese eine Nacht fallen zu lassen.
GIOVANNI
Die im Mondlicht weißen Arme seitlich ausgestreckt, war sie wie ein stolzer Schwan an der Spitze des Steges gestanden. Vom gestreckten Hals bis zu den Zehenspitzen war ihr feinmodellierter Körper in konzentrierter Anspannung gewesen.
Ihr flüssiger Sprung, ähnlich einem Flug, endete mit einem blitzartigen Eintauchen nicht unweit von ihm. Sekunden später tauchte sie unbekannt wie eine Nixe vor ihm auf.
Das Haar glitt nass an ihrem Hinterkopf hinab, sodass ihr Gesicht freigelegt war und die hohen Wangenknochen und freudig, stechenden Augen hervorstachen.
Kokett, fast verspielt ließ sie sich im Wasser treiben. Spritze vergnügt mit den Füßen schlagend, ein Meer aus Wassertropfen in die kühle Luft und warf ihm immer wieder auffordernde Blicke zu. Es war als wäre eine starre Hülle von ihr abgefallen.
Sehnsüchtig nach ihrer Nähe, suchte er in der Dunkelheit nach ihren Fingerspitzen.
Zog sie sachte durch die Wassermassen an sich heran und wurde mit einem herzlichen Lachen begrüßt.
Schnell war es allerdings wieder in der Weite des Sees verschwunden, als sie sich beide den Atem anhaltend gegenübersahen. Für diesen einen Moment gab es nur sie beide, Giovanni und Alma. Frei von ihren Geschichten, der Vergangenheit und der Zukunft.
Überwältigt von der ungeheuren Präsenz des Anderen, schien alles plötzlich ganz mühelos. Weder die Kälte des Wassers noch die Anstrengungen des vergangenen Tages konnte die Magie zerstören.
Federleicht legte sie ihre Hand auf seine Schulter, ließ die Fingerspitzen sachte über die sichelförmigen Einkerbungen der Muskeln wandern, während die seinen einen Schauer über ihr Rückgrat laufen ließen.
Solange wie nur möglich wollte er ihren Anblick in sich aufnehmen, sodass er ihn nie vergessen würde. Erst kurz bevor sich ihre mit Wassertropfen benetzten Münder aufeinander trafen, schloss er die Augen und gab sich ganz der Weichheit ihrer rosigen Lippen hin. Anfangs noch ungeschickt und neugierig abtastend, verschmolzen sie schließlich rhythmisch miteinander.
Tief waren sie in die Erkundung des jeweils anderen eingetaucht und hatten sich vollkommen dem Gefühl hingegeben.
„Ragazzi! He! Dievetato balneazione!“
Die leidenschaftlichen Berührungen hatten die Umwelt schwammig in den Hintergrund treten lassen. Den herannahenden alten Fischer, aufgestützt auf einen hölzernen Gehstock, hatten sie nicht kommen sehen.
Verkniffen stand der Alte am Ufer und reckte aufgeregt seinen Finger in die Luft. Wild zeterte er – für seine Jahre mit enormer Stimme-, als ob er die Welt vor den jugendlichen Sünden befreien müsste.
„He!He! Che chosa fate? Vietato baciare! Ritornate a casa! Ragazzo, non è un luogo per l’amore!“
„Minchia!“, fluchte Giovanni leise, als er sich seufzend von Alma löste. Liebevoll strich er ihr über die Wange, während er innerlich seine Rache an dem Fischer plante. Die Alten hatten heutzutage nichts anderes mehr zu tun, um sich in die Angelegenheiten junger Leute einzumischen und umher zu spionieren.
Alma lachte nur und begab sich unweit ihres Beobachters an das Ufer zurück.
Die Rufe verhallten mit der Entfernung und gehörten wieder einer anderen Welt an, als Giovanni hinter ihr aus dem Wasser trat und ihren nassen Körper mit Blick verschlang.